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  • AutorenbildBoni Koller

Wiglaf Drostes runder Geburtstag

Aktualisiert: 26. Juni 2021

Am 27.6.2021 wäre Wiglaf Droste (1961 - 2019) sechzig geworden. Die Feierlichkeiten zu seinem fünfzigsten Geburtstag sind mir in bester Erinnerung, deshalb teile ich hier gerne mit euch, was Wiglaf später darüber geschrieben hat...

Mit Luther als zeitgeschichtlicher Person hatte ich nie viel am Hut. Schon als Kinder sangen wir in unschuldiger Despektierlichkeit: "Martin Luther, schmier mir' n Butter, eins mit Käse, leck ich dir die Mäse, eins mit Schinken, lass ich einen stinken!" Wobei Mäse nichts mit dem ähnlich klingenden Wort mit "ö" zu tun, hat, sondern im Gegenteil mit der Po-Ritze, auch Analfalte genannt. Ganz aus mit Luther war es bei mir, nachdem ich gelesen hatte, was er gegen die Bauern geschrieben hatte, die er wegen Ungehorsams gegenüber der Herrschaft nur noch totgeschlagen sehen wollte, und gegen die Frauen, die er zum Tod durch angeblich gottgefälliges Dauergebären verurteilte. Sprachmacht allein und an und für ist nicht alles; es kommt auch darauf an, in welchen Dienst man sie stellt.

Luther, der fest an den Teufel glaubte, war selbst einer; am widerwärtigsten ist seine auch durch den Ungeist der Zeit nicht erklärbare Hetzschrift "Von den Juden und ihren Lügen", über die der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) schrieb: "Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern." Luther, der die Juden - da ist er wieder: auf Teufel komm raus" - christianisieren wollte, schäumte und raste, als diese das ablehnten, verlangte die Zerstörung der Synagogen, das Verbrennen jüdischer Schriften und die Ermordung der Rabbiner. Seine "Judentaufe" ist unmissverständlich: "Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücken führen, einen Stein um den Hals hängen, ihn hinabstoßen und sagen: "'Ich taufe dich auf den Namen Abrahams.'"

Und doch geschah es, dass ich eine von Johannes Gutenberg gedruckte Lutherbibel in Händen halten sollte - es handelte sich um eins der ersten Exemplare -, und das kam so: Es war der letzte Sonntag im Juni 2011, der Vorabend meines 50. Geburtstags. Ich hatte meinen Stuttgarter Freund Vincent, einen Meister- und Sternekoch, Musiker und Autor, meinen Zürcher Freund Boni, einen Musiker, Autor und Bühnenkünstler und meinen Hamburger Freund Axel, einen Fotografen, in ein Hotel am Rhein eingeladen. Das Haus verfügte über einen riesigen Apfelbaumgarten - die Ostschweiz wird wegen ihrer vielen Obstbäume auch Obstschweiz genannt, aber Vorsicht: Die Ostschweizer mögen das Wort nicht - und einen direkten Zugang zum Wasser, die Küche und die Weinkarte waren vorzüglich. Unter einem Dach aus Weinlaub saßen wir angenehm kühl und aßen frisch gefangene Felchen, auch Maränen genannt, tranken Wein und liessen es uns, wie es im Märchen heißt, wohl sein.

Ein älterer, gepflegter und gut gekleideter Mann trat an unseren Tisch, bat höflich um Entschuldigung für die Störung und fragte dann, ob er uns vier zum Essen einladen dürfe, wobei er Vincent und mich beim Nachnamen nannte. Ich kannte ihn nicht, Vincent dagegen schon; der Mann aß in seinem Restaurant, wenn er sich in Stuttgart aufhielt. Ich erklärte ihm, dass wir leider schon gegessen hätten. Das mache nichts, antwortete er, wie es denn morgen aussehe. Ich saß in der Bredouille, sagte dann aber, dass ich anderntags mit meinen Freunden meinen 50. Geburtstag feiern wolle. Das sei ja um so besser, freute sich der Mann, zeigte über den Rhein und sagte: "Dann kommen Sie doch zu mir. Ich wohne gleich drüben, mein Koch ist ein As, und ich schicke Ihnen am Nachmittag ein Boot. Abgemacht?"

Ich war schwerst verdattert, fragte einmal in die Runde, alle waren einverstanden, und so sagte ich zu. Bei dem Mann, der anderntags unser äußerst großzügiger Gastgeber sein sollte, handelte es sich um Heribert Tenschert, den Besitzer der weltweit größten Privatsammlung von Pergamenten und Stundenbüchern. 1947 geboren und in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, hatte er sein durch eigene Arbeit finanziertes Studium der Romanistik, Germanistik und Latinistik aufgegeben, um als Antiquar und Sammler zu Reichtum und Ruhm zu gelangen. Beides gelang; für eine Million Pfund ersteigerte Tenschert das Manuskript von Kafkas "Der Prozess" und überließ es dann dem Literaturarchiv in Marbach zum Einkaufspreis. Eine große Geste; die Bonsai-Version, die er für uns in petto hatte, war immer noch riesig.

Am nächsten Tag kam pünktlich das Boot, es ging über den Rhein, und dann sahen wir Tenscherts Besitz: die Biberburg im schweizerischen Stein am Rhein im Kanton Schaffhausen, eine Art Fort Knox, nur in schön. Wir legten an, gingen an Land und wurden mit Champagner begrüsst, eingegossen aus einer Magnumflasche einer sehr teuren Marke, keine Kaufhausplörre, wie unser Gastgeber betonte. Ein stilvollendet eingedeckter Tisch stand im Halbschatten; wir würden zu fünft essen, Tenscherts Ehefrau, ebenfalls vom Fach, war noch beruflich unterwegs; es war ja Montag, und außer uns arbeitete jeder, der konnte, wollte und durfte. Tenschert hatte einem Sternekoch und seiner Frau, der Service-Chefin, ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen wollten, und seitdem arbeitete das Ehepaar exklusiv für Heribert Tenschert, seine Familie und seine Gäste.

Nach dem Aperitiv und einer kleinen Vorspeise bot unser Gastgeber uns an, uns seine Schätze zu präsentieren. Begeistert nahmen wir an. Heribert Tenschert führte uns in eine große Lagerhalle, die mit nicht zählbar vielen Pergamenten und Büchern angefüllt war. Geduldig und mit nachvollziehbarem Besitzerstolz erklärte er uns alles. Pergament hat nichts mit Papier zu tun; es handelt sich um abgeschabte, fein behandelte Tierhaut. Ich sah eine Kuhhaut und erfuhr die Herkunft der Redensart "Das geht ja auf keine Kuhhaut." Die Kuhhaut war das größte Pergament, und ein Text, der zu lang war, um auf dieses Pergament zu passen, ging eben auf keine Kuhhaut.

Tenschert zeigte uns Pergamente von nicht gekannter Weichheit; sie wurden für höchste kirchliche Würdenträger und teilweise exkluxsiv für Päpste hergestellt. Sie waren aus der Haut ungeborener Lämmer; man schlachtete das trächtige Schaf, entnahm den Embryo und machte aus dessen Haut das zarteste Pergament der Welt. "Perverse Schweine", zuckte es mir durch den Kopf; das nächste Paar Schuhe sollte man sich aus der Haut ungeborener Päpste anfertigen lassen. Unser kundiger, sachverständiger und enthusiastischer Gastgeber zeigte uns Bilder, mit denen Mönche die Schriften auf den Pergamenten illustriert hatten; die Farben leuchteten nach vielen Jahrhunderten noch so strahlend, als hätte Marc Chagal seine Fenster im Zürcher Fraumünster erst zwei Minuten zuvor eingesetzt. Weil ich Geburtstag hatte, fragte mich unser Gastgeber nach einem alten Lieblingsbuch, ich nannte ihm den "Candide" von Voltaire, er lachte, ging zu einem Regal voller "Candide"-Ausgaben, zog eine besonders prächtige hervor und schenkte sie mir.

Nach einer langen Besichtigungstour waren wir hungrig geworden, es ging an die Tafel, und was aufgetischt wurde, ließ keinen Wunsch übrig; auch Freund Axels vegetarische Ernährung war bedacht worden, Gang um Gang wurde aufgetragen, zu jedem gab es einen köstlichen und genau passend ausgesuchten Wein aus schönsten Gläsern. Dass Herr Tenschert dann und wann den Preis einer Speise oder eines Getränks erwähnte und einmal sogar den Satz "Ich kann mir alles leisten" in die Welt entließ, lässt mich nicht die Nase rümpfen; schließlich bin ich keiner jener von Neid zerfressenen Professores, die in akademischer Dünkelhaft leben und auf jemanden ohne entsprechenden Titel herabsehen, dann aber, wenn sie etwas von ihm wollen, artig ganz kleine Brötchen backen, was ihren niederträchtigen Hass auf jemanden, der aus eigener Kraft, auf eigene Rechnung und ohne universitäre Deckung etwas schuf, noch nährt, mehrt und steigert.

Und dann, nach den Desserts, kam sie auf den Tisch, die Lutherbibel von Gutenberg, ein Trumm, eisenbeschlagen mit eisernem Verschluss, viele Kilos schwer, ich hätte sie nicht tragen, sondern nur in einem Handkarren transportieren können. Wir wurden aufgefordert, alles anzusehen und anzufassen, "Das schadet nicht, das geht niemals kaputt", rief Gastgeber Tenschert, erfreute sich unserer Begeisterung, und ich dachte, wie schon bei den handbeschriebenen Pergamenten, dass ich zur Unzeit Schriftsteller geworden war. Solche Drucker wie Gutenberg gab und gibt es nicht mehr, und bei allem berechtigten Dafürhalten, das Recht auf Bildung zu demokratisieren und Wissenserwerb ausnahmslos jedem zumindest zu offerieren, gehen die heutigen rasanten Vervielfältigungsmöglichkeit eben auch mit Vulgarisierung und Hässlichkeit einher. "Macht unsere Bücher billiger!", forderte Kurt Tucholsky, der die Bildung der Arbeiterklasse vorantreiben wollte; von "Macht unsere Bücher schäbiger!" war nicht die Rede.

Dass die herabgesunkene Buchbranche ihr Heil teilweise auch in besonders schön gemachten Büchern sucht, für die es zur Motivation der Verlage auch Preise gibt, ist löblich; einem Vergleich mit dem, was für immer aus der kontemporären Welt verschwunden ist, halten diese Versuche nicht stand. Zum Ende des Abends wurden wir noch ins Allerheiligste geführt. Die Biberburg hat schon meterdicke Mauern; dieser Raum war zusätzlich in einen begehbaren Tresor verwandelt worden. Wir durften alles anfassen; hierhin hätte ich mich, von drei Essenpausen am Tag abgesehen, jahrelang zurückziehen können. Besonders erinnerlich ist mir eine achteckige Ausgabe des Koran, aber ich hätte mich auch an jedem anderen Buch in diesem Raum festsaugen können. Gastgeber Tenschert brachte uns dann in einem sehr PS-starken Automobil in unser Hotel, und im Garten tranken wir nach der Luxus-Völlerei, für die man im Restaurant pro Nase beziehungsweise Schlund etwa 1.000 Euro veranschlagen müsste, erstmal ein profanes helles Bier. Es schmeckte phantastisch.


Wiglaf Droste


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